Janus
[…] Wer arbeitet denn heute auf dem Gebiet der Landschaft? Das ist ein weithin brachliegendes Feld; bebaut wurde es mit dem Gefühl, in einem Gelände herumzustreifen, das mit dem Prädikat „altmodisch“ bezichtigt schien. Der Satz: „Ein Höhenzug, man hätte ihn nicht mehr zu hoffen gewagt, nicht mehr für möglich gehalten“ taucht so unverhofft und schön auf, wie es der Bildgestaltung entspricht. Möglich gehalten, wer hätte es, das Unmögliche? Hier ist es; gerade in seiner Möglichwerdung beglückt es uns. Bei dem Möglichwerden des Unmöglichen bin ich auch unversehens bei dem Komplex des Janushaften, der bei mir für Ambivalenz, für Doppeldeutigkeit, Doppelbödigkeit, für Mehrschichtigkeit und oft auch für Zweigeschlechtlichkeit, als Eins von Mann und Weib steht. Wer das Oeuvreverzeichnis aufmerksam verfolgt, wird bemerken können, daß das Wort Janus des öfteren in den Titeln auftaucht.
Eins meiner größten handgeschriebenen Bücher trägt die Bezeichnung „0 Janus oh Janus“. Die Reihung von „Januskopf“, „Bifrons“ und „Zweistirn“ erscheint mir sehr glücklich, vor allem die Verfremdung durch das Lateinische. Den Begriff „Stirn“ dem Begriff „Kopf“ zu verschwistern, ist mir sehr nahe, da für mich darin die Schläfenwelt eingeschlossen ist. Die Schläfe als Sitz eines dritten Auges, einer Welt der Sensibilität, zwischen Vernunft und Gefühl beheimatet. Landschaften von mir, in denen ich mit klopfender Schläfe die Hügellinien gegangen bin und die ich im Grunde nicht mit den Augen, sondern mit dieser Schläfe gesehen habe. Sehr schön auch das Wort von der Geduld, in der mehr darin ist als Ausdauer. Und dann das Wort von den Landschaften, die »Aufschlüsse« sind. […]
Gerhard Altenbourg an Erhart Kästner am 30 August 1969. In: Das dritte Auge. Ein Dialog der Freunde. Gerhard Altenbourg und Erhart Kästner, Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1992. Altenbourg bezieht sich in diesem Brief auf Kästners Vorwort zum Werkverzeichnis von 1969.