Rahel entschreitet
Man muß sich Zeit nehmen, um ein so geketteltes, geduldig gewebtes Blatt bis zum Ende zu lesen. Es sind jeanpaulische Abschweifungen da; Geschichten sind angereichert mit Einschüben, Extraposten, Anmerkungen, Randglossen. Szenen drängen zur Auflösung; man fragt sich: Was geht vor? Es ist Spannung da; aber die Lösung? Absurdes ist allen diesen Szenen gemeinsam. Es sind sanfte Besessene, die da auftreten; Rätselhaftes geschieht. Einst war das Rätsel eine Literaturform, die sich großer Beliebtheit erfreute; jetzt ist das Rätsel wieder zur großen Sache geworden. Als absurdes Theater ist es zurückgekehrt, und wir sind bereit zum Empfang. Kein Wunder; je weiter die Weltausrechnung fortschreitet, desto mehr, in groteskem Widerspruche dazu, schwillt Undurchdringlichkeit an. Eben nicht verbreitet sich, wie uns doch versprochen war, Durchschaubarkeit, Verständlichkeit und vernünftige Klarheit. Vielmehr wächst Zuschluß. So wird die Sprache der Künstler allerdings zur Geheimschrift, auf Einverständnis mit Einverstandenen hoffend.
Ohne Zweifel, die Mehrzahl dieser Szenen muß man Geständnisse nennen. Es sind Abstiege ins Halbdunkele der Seele. Suberotisches ist überall da, Gestautes arbeitet. Von Nichterfülltem, das bekanntlich mehr abgibt als das Bekommen, sind ganze Flächen erfüllt.
Ein Beispiel. „Rahel entschreitet“ nennt sich ein Blatt, das so viel Spannung wie Rätselhaftigkeit hat. Da sind drei, und wenn man eine zarte, kleine einrechnet, es ist eigentlich nur eine Wurzel, vier Personen; eine von ihnen, die Unterschrift sagt es, ist im Begriff, sich aus dem Verbande zu lösen. Ein Abschied also. Verwundung ist ohnehin in fast allen Blättern vorhanden, Schwermut ist allermeist da. Erfährt man, dass Rahel in dieser Szene nur vag etwas mit der schönen Schafhirtin zu tun hat, um die Jakob sieben Jahre lang dient, die ihm vorkommen „als wären es einzelne Tage, so lieb hatte er sie“, so besteht und bleibt doch die Denkbrücke zum altjüdischen Familienverband als dem exemplarischen, engsten, aus welchem es Lösung nur unter schmerzlichem Zwang gibt.
Erhart Kästner 1969, aus: Für Altenbourg, in: Das dritte Auge. Ein Dialog der Freunde Gerhard Altenbourg und Erhart Kästner, Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1992