Brief an Horst Hussel
Lieber Herr Hussel,
René Char spricht einmal von dem „Herrscher Zeit“ als einem „Machtvollen Wanderer“; wenn ich mich nicht irre, sogar in der Mehrzahl im Bild der Gräser, die „machtvolle Wanderer“ des „Herrscher[s] Zeit“ für ihn sind. Angesichts Ihres Briefes und ihrer Ostersendung glaube ich fast an eine solche Herrschaft.
Vergeben Sie einem ungetreuen Knecht sein noch nicht abgestattetes Dankeschön, das nun – nachdem Ihr Blatt „Persietta und ihr Zwerg“ (o schönes Gedenken an einen Text auf altem Papier!) lange auf einem Stuhl im Arbeitsraum vor sich hinsang – erfolgen soll: Diese Linien schlenkern so fein unabsichtlich, daß es eine Lust ist, sie anzusehen (was natürlich ein Urteil Käthchen + Friedas nicht ausschließt!). Und die linke Extremität hebt sich dem Zwerg so subtil ins Gesicht, daß ich das Schweigen des Raumes zwischen den Kontrahenten eines unfreiwilligen Kömödienspieles geradezu verspüre, ein Schweigen, in dem es knistert. Ich hoffte schon lange, meinen Dank mit meinem „Ich-Gestein“ vollziehen zu können. Jetzt ist der Band für Sie hier, aber, aber den voluminösen Prachtband wage ich nicht einer Post, die wie in Hinterkrähwinkel arbeitet, anzuvertrauen. Dazu ist mein Vertrauen denn doch zu asthmatisch. Sie werden sich wohl oder übel bis zu meiner Reise im November gedulden müssen (im Oktober wird uns das Fels- und Waldrevier von Schierke von einer Reise in die Metropole abhalten!).
Ich las jetzt (d.h. in den letzten Wochen) den „Zauberer von Rom“ von Gutzkow, auf den ich durch Arno Schmidt, diesen Wünschelrutengänger der Literatur, gestoßen wurde: 9 Bände in der Erstausgabe 1858f. bei Brockhaus zu Leipzig. Die Bände waren lohnend, Passagen darin, // wo hundert Jahre passierender Zeit nicht spürbar, was bei erzählender Prosa doch einiges besagen will. „Hosi und Anna“ von E. Jandl erwarte ich nichtsdestotrotz mit Vergnügen; die letzte Platte war ein esoterisches Vergnügen; und das bei Wagenbach, – nein! – ich muß mich doch verbessern: bei Luchterhand; Wagenbach wäre dafür denn auch nicht der rechte Verlag gewesen. Ein prächtiger Ensor in Stuttgart (Württ. Kunstverein); William Turner in Dresden und der Eisenschmied Luginbühl, ein poetischer Verschwörer und Zauberer, in der National-Galerie Berlin W.; Max Ernst mit dem gesamten graphischen Werk bei Brusberg in Hannover, (mit einem guten Katalog): das sind einige Wichtigkeiten des Sommers. Ein Seurat-Band von John Russel, der etwas zum Staunen und Bewundern ist, dazu. Die Klee-Zeichnung, die ich erwerben wollte, ist mir leider entgangen. Das sind die Tropfen des Schmerzes.
Hier im Hause sind zwei große Türen in Messing und Kupfer zur Ausführung gelangt. Ansonsten ist es jetzt bereits empfindlich kühl, was die Produktion immer stört. Wenn der Blick durch das Fenster auch noch üppiges Grün meldet, beginnen bereits die Verwandlungen, die mählichen Übergänge, die Bewegungen hin zum Verzicht. In Ihrem Wändemeer verspüren Sie davon zu wenig. Es ist das wenige Lohnende, dieses leise Vorübergehn. Sie lesen Matthisson, ich schaue in den Hölty: „Flieht der Stadt umwölkte Zinnen!“. Also schon damals, – nun – das war schon immer. Wenn das Gedicht auch den „Mav“ apostrophiert, ich will es ruhig im Herbst hier stehen lassen, es wollte hier zum Schluß des Briefes sein.
Lassen Sie es sich gut gehen. (Ich denke
manchmal an Ihren Besuch hier!)
Ihr AItenbourg
26. September 1972
Brief Gerhard Altenbourgs an den Zeichner, Grafiker, Illustrator und Schriftsteller Horst Hussel (1934–2017), in: Mit Salut und Flügelschlag, Der Briefwechsel zwischen Gerhard Altenbourg und Horst Hussel, herausgegeben und kommentiert von Jens-Fietje Dwars, Edition Ornament im quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2016