Um ein Haar

Mit kleiner Nervenbelastung, 1969
Mit kleiner Nervenbelastung, 1969
WVZ 69/7, Chinesische Tusche, Aquarell und Bleistift auf Velin Bütten, 42,0 x 60,5 cm
Lindenau-Museum Altenburg, vormals Sammlung Rugo

[…] In dem Augenblick, wo sich auf einer leeren Fläche eine Flaumfeder niederläßt, ist die Fläche, und sei die Feder dem bloßen Auge auch kaum sichtbar, keine leere Fläche mehr, sondern ein Bild, denn die Feder gleicht dem Hauch, der das Nichts vernichtet. Sie ist sein Gleichnis. So erzeugt sie, indem sie sich in der Leere niederläßt, ein Abbild des Schöpfungsvorgangs. Rings um sie kristallisiert sich die Leere zur Erscheinung, sie wird Welt.
In dem Augenblick, wo ein Mensch irgendwohin auf ein Blatt Papier oder auf eine weiße Leinwand einen Punkt setzt, vernichtet er ein Abbild des Nichts und setzt dafür ein Bild der Weltschöpfung. Ebenso verhält es sich, wenn er oder ein anderer quer über ein weißes Blatt eine kräftige Linie zieht. Allerdings sind dann im Ansatz erst einmal zwei verschiedene Welten entstanden, die kaum etwas miteinander zu tun haben, im einen Fall eine entschiedene Punktwelt, im anderen eine entschiedene Strichwelt.
Anders verhält es sich, wenn derjenige, der das Bild der Welt aus eine Fläche hervorgehen zu lassen beabsichtigt, damit anfängt, daß er die Fläche mittels des Stifts oder des Pinsels, mittels Kreide oder Graphit, Tusche oder dünner Wasserfarbe berührt, indem er einen Hauch darüber hingleiten läßt. So geht Altenbourg vor, sobald er ein Bild beginnt. Er atmet mit einer leichten, kaum spürbaren Geste seiner Hand einen Anflug von Farbe und Form in die Fläche hinein, und es entsteht aus Abend und Morgen der erste Tag des Bildes. […]

Die Angst vor der ersten Berührung ist der Grundantrieb, der den Künstler Gerhard Altenbourg zum Handeln bewegt. Sie ist sein Schicksalsmotiv. Aus der Berührungsangst ist sein Werk gezeugt. Hat er sich aber entschlossen, so bringt ihm der erste Atemzug der Bildentstehung dreierlei: tiefsten Ernst, verbunden mit äußerstem Entzücken, und als Schwingung, aus dem Spannungsverhältnis zwischen beidem, Ernst und Entzücken, gewonnen, höchste Ironie. Die Ironie ist das Oszillogramm des Panischen. Gott lacht! Und so er lacht, schüttelt sich die Welt, „doch alle seine hohen Werke sind herrlich wie am ersten Tag.“ […]

Eberhard Roters: Aus dem Essay „Um ein Haar“, geschrieben im September 1986, publiziert im Katalog zu den Ausstellungen „Gerhard Altenbourg. Arbeiten 1947–1987“ in der Kunsthalle Bremen, der Kunsthalle Tübingen, dem Sprengel Museum Hannover, der Akademie der Künste Berlin, 1988

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