Gerhard Altenbourg ist 1968 mit fünf Arbeiten am Marzotto Europa Preis für figurative Malerei beteiligt.

Variatio delectat, 1968
Variatio delectat, 1968
WVZ 68/1, Tempera, Aquarell, Ölfarbe,
Kreide; Hahnemühle Bütten, 60,6 x 50 cm
Privatsammlung Dresden

Als der Gaetano Marzotto Preis für figurative Malerei 1967 geschaffen wurde, bezweckte er, für „Wertschätzung und besseres Verständnis der zeitgenössischen Maler zu werben, die unabhängig und originell sind und deren Persönlichkeit stark genug ist, um die kunstlerische Sprache zu erneuem, die das Erbe einer weltweiten Kultur ist“. K. J. Geirlandt vom Museum zeitgenössischer Kunst in Gent entwickelte bezeichnenderweise 1964 den Gedanken, dass das hohe Niveau künstlerischer Darbietungen in moderner europäischer Kunst auffallend mit einem erneuten Interesse für Figuration zusammenfällt. Dies Interesse ist zwiefach: spekulativ und retrospektiv im Sinn einer Tendenz, auf die figurative Kunst aller Zeiten, vor allem aber der Periode vom Anfang des Jahrhunderts zurückzublicken. Es ist schöpferisch darin, dass eine grosse Anzahl von Künstlern einen neuen Antrieb zur Figuration fühlen. Es sollte nicht vergessen werden, dass, auch als die abstrakte Kunst auf dem Höhepunkt war, es eine sehr aktive Art von moderner Figuration gab. Beim Versuch eine moderne Figuration zustande zu bringen, benutzten die Künstler verschiedene Mittel, von denen ein wichtiges die Verzerrung war.

Bernard Dorival stellte fest, dass in modernen Zeiten erst seit Ingres und Delacroix sich die ersten Zeichen einer Rebellion gegen das strikte Dogma menschlicher Anatomie bemerkbar machten, was Gauguin später „objektive Deformation“ und „subjektive Deformation“ nannte. Man kann zu Gunsten der gängigen Meinung sagen, dass die Franzosen ganz besonders der objektiven Deformation frönten (Kubismus, geometrische yxFormanalyse, Vervielfältigung von Sehpunkten usw.). Zur Sphäre der subjektiven Deformation gehören die Fauves, die Surrealisten, die Expressionisten, die Maler phantastischer Visionen usw.
Dass das, von all diesen mehr oder weniger neuen Gesichtspunkten aus gesehene "Neue Bild vom Menschen" das Ergebnis war, ist klar. Hierüber ist die Studie über das Thema von Peter Selz(1) sehr interessant.

Zu Recht wies Paul Hasaerts in diesem Zusammenhang auf die Verwandtschaft hin zwischen dem Stil in der Kunst und der Zivilisation, in der er produziert wird: Die riesige Entwicklung von Wissenschaft und Technik hat in unserer Kultur und in unserer aesthetischen Anschauung eine Revolution hervorgebracht. In der Aera des heftigen Zerfalls der traditionellen westlichen Kunst trat eine Defiguration dieser Kunst ein. Die Reaktion gegen den Akademismus, den erschöpften Anschein von Kunst war ausserordentlich stark. Eine auferstehende Kraft in der Kunst verwarf die früheren künstlerischen Attribute: Erzählung (Cézanne), Claire-obscure (Gauguin), Perspektive (Matisse), Nuancen (Fauves), Farbe (Kubisten), Kurve (Mondian), Logik (Dada), Vernunft (Ernst), Aehnlichkeit (Dubuffet), Repräsentation (Hartung), malerischer Reichtum (Herbin), Polychromie (Klein). Nur das Wesentliche sollte erhalten werden: Authentizität. Mit dieser Authentizität folgt jeder Künstler seinem eigenen Weg und zwar hartnäckig bis zum Ende: Verzweiflung (Munch), kalte Geometrie (Malevitch und Vasarely), Gefühl des Absurden (Dali und Magritte), träumerische Unschuld (Rousseau und Bauchant), Ungestüm (Boccioni und Duchamp), Unbeweglichkeit (Vantongerloo und Nicholson), lyrische Kraft (Permeke und Beckmann), Farbensättigung (Jawlensky und Delaunay), Schematismus (Hofer und Brusselmanns), expressive Deformation (Soutine und Bacon), Aufgeben der Technik (Pollock und Jorn).

So tauchte eine neue Realität auf, die mehr als Realität ist. Auf Synthese wurde verzichtet und man sucht nach den Dingen, die das Auge nicht sehen kann: Darin liegt die Stärke und die Qualität der heutigen Kunst. Und wo findet man die Dinge jenseits des Horizonts? Unterbewusste Kräfte, das Loslassen von Energie, Wüstenlandschaften, beklemmende Räume, Bilder von geistiger Verwirrung und Bitterkeit – aber auch von Traum und Zärtlichkeit: so viele Motive in der Aesthetik des Künstlers, der, während er malt, seine Auswahl trifft unter einer Reihe von malerischen Möglichkeiten, die zwischen der strikt realistischen Figuration und der totalen Defiguration liegen.(2)

Der heutige figurative Künstler benutzt alle formalen und technischen Entdeckungen auf der abenteuerlichen Reise der zeitgenössischen Kunst. Er lehnt die Idee ab, dass die Poesie reiner Malkunst nur auf die Grammatik von einfacher Form, von freien Formen oder des Informel beschränkt, sein soll. Er hat erfasst, dass im Prozess der dauernden Revolution in der Kunst, Kunst als Ausdruck menschlicher Werte verloren gegangen ist, dass humanistische Kunst die unserer europäischen Ueberlieferung gemässe Form ist. Er überzeugte sich, dass, wenn der Ausdruck Kunst, der auf den Werken unserer künstlerischen Erbschaft beruht, seinen Sinn und seine Qualität behalten soll, wir den Unterschied zwischen expressiver menschlicher Kunst und dekorativer oder nützlicher Kunst wieder einführen müssen. Lasst uns von Kunst reden, wenn wir das Zwiegespräch zwischen dem Menschen und dem Universum, dem Menschen und der Gesellschaft, dem Menschen und der Existenz meinen, und lasst uns von dekorativer oder angewandter Kunst sprechen, wenn gewisse, dem Gebrauch dienende Aufgaben erfüllt werden sollen. Das ist keine Wertung, sondern eine Klassifizierung, eine Kennzeichnung und eine Definition. Immer wichtig wird bleiben, ob ein Kunstwerk gut oder schlecht ist oder auch, ob ein Werk dekorativer oder illustrativer oder angewandter Kunst innerhalb seiner Sphäre gut oder schlecht ist.

(1) Peter Selz, „New Images of Man“ (Neue Bilder des Menschen). Mit Aussagen der Künstler, The Museum of Modern Art, New York 1959. Siehe auch „Transformation of Man“ (Wandlung des Menschen) von Lewis Mumford, George Allen und Unwin, London 1957, wo der Ausdruck „New Word Man“ (Mensch der Neuen Welt) im Zusammenhang mit „World Culture“ (Weltkultur) gebraucht wird. Mumford behandelt die kulturelle Seite, Eric Neumann die psychologische in „Krise und Erneuerung“, Rhein Verlag Zürich 1961, wo die Ausdrücke: Neue Erfahrung. Neue Realität, Neuer Humanismus gebraucht werden. Wenn wir vom neuen Bild des Menschen sprechen, werden wir daran erinnert, dass das Bild des Menschen innerhalb der Geschichte sich gewandelt hat. Das ist das Hauptthema von Prof. Joseph Gantners Buch „Schicksale des Menschenbildnisses. Von der romantischen Stilisierung zur modernen Abstraktion“, Francke Verlag, Bern 1958.
(2) Alle Zitate aus der Einleitung zum Katalog „The Human figure since Picasso“ (Figuration en Defiguration: Museum voor Schone Kunst, Gent 1964.

Joseph P. Hodin in: Katalog zum Marzotto-Preis 1968.
Gerhard Altenbourg war mit fünf Arbeiten, darunter „Variatio delectat“, an dem europäischen Wettbewerb beteiligt. Preisträger waren Pierre Alechinsky, Juan Genovés, Horst Antes und Tadeusz Kantor.

Zurück