Haltestellen des Werdens

Selbst
Selbst 1947
WVZ 47/11, Pitt-Kreide, Aquarell auf Schoellerhammer Karton
69,1 x 51,2 cm
Privatsammlung

In dieser Zeit traf ich öfters mit Gerhard Ströch, genannt Altenbourg – nach seinem Herkunftsort Altenburg in Thüringen – in Ostberlin zusammen. Mit ihm also besuchte ich die Ausstellung „Deutsche Romantik“*, eine Sache, die mir eigentlich fremd war. Die Bilder von Caspar David Friedrich hatte ich bis dahin nie als bedeutend empfunden, weil ich von meiner Erziehung her, der französischen Seite, dem Impressionismus zugetan war. Und das entsprach ja auch der allgemeinen Anschauung. Erst in der Nationalgalerie in Westberlin habe ich dann gesehen, wie die Romantiker gleichgewichtig neben den Impressionisten vorgestellt wurden und daß da eine Kraft im Verborgenen schlummerte.
Im Gang durch die Ausstellung mit Altenbourg wurde mir dieses und jenes mit den Augen des Künstlers nahegebracht. Ich habe viel erfahren von dieser anderen Ästhetik, die ebenfalls in Europa ihren Platz gesucht hat, aber immer noch im Schatten lag, nicht zuletzt durch die einseitige Interpretation der Romantik durch die Nationalsozialisten. Erst spät hat man dazu wieder Zugang gefunden durch die 1974 von Werner Hofmann in der Hamburger Kunsthalle präsentierte Ausstellung von Caspar David Friedrich.
In der Ausstellung in Ostberlin gab es direkte und indirekte Hinweise auf meine Freunde wie Baselitz und Penck, die ja aus dem Osten Deutschlands kamen, aus Sachsen. Ich habe verstanden, daß diese Form der Ästhetik mir näherstand als jene, die im Rheinland gepflegt und als international eingestuft wurde. Ich habe in der Romantikerausstellung das gefunden, was mir bisher gefehlt hatte, das bessere Verständnis, woher diese Künstler eigentlich gekommen sind, und damit wurde auch mein Verständnis für eine andere Auffassung von Kultur geweckt.
Es gab hier die großartigen Entwürfe von Caspar David Friedrich, aber auch viele kleine, kleinliche Bilder, was durch die äußeren politischen Umstände bedingt schien. Aber es war doch möglich, auch in solchen Zeiten große Gedanken zu äußern, und das kam am besten bei Caspar David Friedrich zum Ausdruck.
Dieser Diskurs aus der Enge heraus, den wir als Schweizer nur zu gut kennen, zeitigte trotzdem und trotz allem wichtige und bedeutende Bilder.

Johannes Gachnang: Haltestellen des Werdens. Eine biographische Ausstellungschronologie (1958–1974) zusammengestellt von Rudolf Schmitz, In: Bilderstreit. Widerspruch, Einheit und Fragment in der Kunst seit 1960. Eine Ausstellung des Museums Ludwig in den Rheinhallen der Kölner Messe, 8. April bis 28. Juni 1989, kuratiert von Siegfried Gohr und Johannes Gachnang. DuMont Buchverlag Köln, 1989

*Deutsche Kunst im 19. und 20. Jahrhundert. Ausstellung anläßlich der Wiedereröffnung des Alten Museums im Oktober 1966

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