Klar dem Nächtlichen verschwistert

Caspar David gewidmet, 1966 WVZ 66/56
Caspar David gewidmet, 1966
WVZ 66/56, Tempera, Chinesische Tusche, Kreide, Blei, Pastell
Privatsammlung

„Ich-Gestein“ – Ein Bildband über Gerhard Altenbourg, den Zeichner von Landschaftsgesichtern und Gesichtslandschaften.*

Eine blicklose, aus den Katakomben von Palermo, aus ferner Erinnerung, aus einem Nichts entstiegene Physiognomie, von hastenden, klagenden, röchelnden Linien wie von dahinströmender, von enteilender Zeit durchweht, ein Traumgesicht oder ein Gesichtstraum. Rechts unten, kaum wahrnehmbar, gleichsam im Rand versteckt, die Worte „Caspar David gewidmet“. Diese leise Huldigung ist es vor allem, die Aufschluß gibt, die „Ich-Gestein“, das monumentale Altenbourg-Szenarium, in doppelter Hinsicht und mit doppelter Bedeutung artikuliert: als Ahnenchiffre und als Anstiftung, dieses sensitiv-verschlüsselte, dem Land Edelstein verpflichtete Strichwerk genau zu lesen; Stück um Stück, Linie für Linie, Parallele zu Parallele abzutasten, um den „Sinn dieser geduldigen Divisionen“, wie Erhart Kästner in seinem bemerkenswerten Altenbourg-Essay meint, außerhalb des routinemäßigen Bildkonsums zu erspüren. „Zwanzig Jahre eingezogenes Leben“ bringt der mit allen Finessen drucktechnischer und typographischer Art versorgte Band an den Tag – der Ausschnitt einer hermetischen Existenz.
In diesen zwei Jahrzehnten von 1949 bis 1969 hat sich auf der Kunstbühne eine Stilexplosion ereignet, ein erbarmungsloser Fight, der geometrische Abstraktion, lyrisch gestimmtes Informel und phantastischen Realismus gegeneinanderstellte. So grotesk, so unglaubhaft es klingt; der Mann von „drüben“, dieser Altenbourg aus Altenburg, hat von der Abstraktion, vom Informel, von den Phantasten partizipiert; er hängt nicht in der Luft und lotet nicht außerhalb der Zeit. Es macht die eigentümliche Statur dieses Zeichners aus, daß er mehr hat, weiter greift, tiefer landet, daß er zwischen dem Wirklichen und dem Unbewußten ohne System, ohne Programm, ohne Zwang vermittelt.
Altenbourg ist sozusagen Surrealist wider Willen; seine späte, introvertierte Romantik sieht sich durch Melancholie und Skepsis gefiltert. Innen ist außen, und die Wahrheit hat ihr eigenes Gesicht. So konnte der von Clique und Kommerz verschonte Phantast, der sich wie Oelze des korrekten Auftritts befleißigt, eine spezifische Altenbourg-Figur und eine spezifische Altenbourg-Landschaft etablieren, so brachte die „mürbe Durchlässigkeit meines Hierseins“ einen wunderlichen und mehrsinnigen Dialog zwischen Landschaftsgesichtern und Gesichtslandschaften hervor, die wie ein Echo des Echos, wie zerbröckelnde Spuren eines zurückgeholten Lebens auf der Fläche, besser in die Fläche wirken.

Hans Kinkel in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 277, 30.11.1971

* „Altenbourg Ich-Gestein. Arbeiten aus zwei Jahrzehnten“, erschienen im Propyläen-Verlag Berlin 1971. Mit einem Essay von Erhart Kästner und dem Text „Klar dem Nächtlichen verschwistert“ von Gerhard Altenbourg

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