Entwurf eines einsamen Lebens
[…] Zur Welt gekommen war Gerhard Altenbourg alias Ströch am 22. November 1926, im Thüringischen, in einem kleinen Ort, dessen Namen er erdacht haben könnte: Rödichen-Schnepfenthal bei Friedrichroda. Am Ende stellte Altenbourg die Dinge (und die Namen) auf den Kopf und wieder richtig, kehrte heim zu den Ursprüngen: Altenbourgs Schnepfenthaler Suite schrieb er über das opus magnum der 100 kostbar-köstlichen Blätter, das im Todesjahr vollendet wurde. 100 Kaltnadelradierungen aus 1000 Nächten, in zärtliches Licht getaucht, doch von genauer, kristallener Klarheit. Heiter scheinende Miniaturen der Liebe, helle Meditationen über die dunkle Welt des Eros, eine ironisch verspielte, aber vom Wissen der Unvermeidlichkeit des Todes gebrochene Inszenierung der Comédie humaine. Choreographien der Liebe. Der Klang der reinen Linie. Und das Echo seiner Wort- und Titelfindungen. Bilder und Worte. Sie kommen scheinbar leichtgeschürzt daher, sind aber doch ein Höhepunkt seiner Kunst. Und ein Schlüssel zu ihr. Der Triumph der Kunst über das Leben. Ein Lächeln am Ende eines Weges. […]
[…] Er lebte in einem fernen Land, in einem menschenfeindlichen Staat. Aber nicht isoliert. Er hatte sein eigenes Reich. Da war er frei, verfügte über Zeit und Raum: in seinem Werk. Aquarelle und Zeichnungen, einfach und doch reich; Mischtechniken von verschwenderischer Fülle; die Malerbücher, verborgene Schätze. Und dann: das weite Feld seiner Drucke. Aneignungen, Eroberungen, Verwandlungen, Erfindungen: die frühen kraftvollen Holzschnitte, vielen vieles vorwegnehmend; die Lithografien und Steinritzungen, Zauber huschender Linien und Schatten aus silbernem Grau und atmendem Schwarz; die späten Holzschnitte, die Wund-Denkmale, ein Kapitel für sich, zarteste Klänge. Und schließlich die jähe Liebe, der große Abgesang: die Kaltnadelradierungen. Unerbittlichste aller grafischen Techniken. Alles oder nichts. Ihm gelangen Blätter von schmerzender Schönheit, Linien, zart oder scharf, wie auf der Geige gespielt: kraftvoll fordernd im Aufstrich, in unendlich scheinender Feinheit verklingend. Reichtum und Enthaltung, Fülle und Maß. […]
Dieter Brusberg in: „Entwurf eines einsamen Lebens“, Insel-Bücherei Nr. 1168, Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1997
Die „Schnepfenthaler Suite“ erschien 1989 als Folge von 100 Kaltnadelradierungen in einer Auflage von 14 Exemplaren. Vollständig publiziert in: Brusberg Dokumente 22, hg. Von Dieter Brusberg im November 1989